Wissen ohne Humanität kann nicht humanistisch sein

Hubert Cancik. Foto: © A. Platzek

Der Altphilologe und Religionshistoriker Hubert Cancik, Initiator und Mitherausgeber das Kompendiums „Humanismus: Grundbegriffe“, sieht den Aufbau einer deutschen Humanistik-Fakultät als dringende Aufgabe.

Im Interview zum Kompendium bezeichnet er die Vorstellung, dass Erziehung, Bildung und Aufklärung und die Kultur der Persönlichkeit allein alle Fehlentwicklungen in Gesellschaft, Arbeit und Politik verhindern könnten, als eine Illusion. Humanistinnen und Humanisten, die auf solche Illusionen verzichteten, gäben damit aber nicht die Hoffnung auf Fortschritt und ein gutes, erfülltes Leben auf.

Dem von Ihnen mit herausgegebenen Band vorangestellt sind Verse von Joseph Justus Scaliger (1549-1609), in denen es u.a. heißt: „Man laß‘ ein Wörterbuch nur den Verdammten schreiben“. Wenn Sie an die Produktionsphase zurückdenken, woran erinnern Sie sich mit „Grauen“, woran mit Freude?

Hubert Cancik: Die Freude überwog und überwiegt bei weitem. Besonders intensiv waren die ersten Gespräche zur Konstitution einer dreifaltigen Ganzheit von Humanismus. Die Arbeit mit den jungen KollegInnen an den einzelnen Artikeln – „Humanistische Schreibstube“ – war immer anregend und meist fruchtbar und fröhlich. Das „Grauen“ war wie üblich und begrenzt: Termine, unzuverlässige AutorInnen, die Abbildungen. Das ist vergessen und verdrängt. Es bleibt die Erkenntnis von Mängeln und Lücken und die Einsicht in die Notwendigkeit, die „Grundbegriffe“ zu ergänzen, die Personenkunde auszubauen („Humanistische Porträts“), die Enzyklopädie des Humanismus vorzubereiten.

Wem legen Sie dieses Buch ans Herz und ans Gehirn? Wer sollte es lesen bzw. mit ihm arbeiten?

Die „Grundbegriffe“ sind ein kleines Nachschlagewerk für alle, die sich über „Humanismus heute“ klug machen wollen. Sie sollen besonders denen nützen, die in Schule und Hochschule die Ethik und Geschichte, Religionskunde bzw. Religionswissenschaft und Philosophie unterrichten; die die akademische Humanismus-Forschung betreiben; die in humanistischen Beratungs- und Betreuungsdiensten tätig sind. Die Aufgabe war und ist aber doch, die Grundzüge des Humanismus „für alle“ in einfacher Sprache und anschaulich darzustellen als Teil der europäischen Kultur-Geschichte, als Theorie und Praxis, in Geschichte und Gegenwart. Das ist nicht immer gelungen und sollte, in einem anderen Format, wieder versucht werden.

Welche Aktualitätsbezüge hat der Band?

„Grundbegriffe“ wirken, wenn überhaupt, langfristig und indirekt. Aber die Begründung und Aktualisierung von Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, positiver und negativer Religionsfreiheit ist immer, hier und heute gefordert. Dasselbe gilt für die Bewahrung der Neutralität des öffentlichen Raumes. Auch Schulen sind nicht der Ort, an dem Kinder dem Bekenntnisdrang von Lehrpersonen ausgesetzt werden dürfen.

Die Konkretisierung und auch eine nicht-juristische Begründung der Menschenwürde und der Menschenrechte bleibt eine immer aktuelle Aufgabe der humanistischen Bewegung. Die theokratischen, autoritären Versuchungen sind nicht geringer geworden. Das sogenannte Böckenförde-Diktum über die metaphysische Begründung des Staates verbreitet, obschon mehrfach widerlegt, immer noch Verwirrung. Es sind viele Felder, auf denen praktischer Humanismus eingreifen muss: Was Bildung in der digitalen und globalen Welt sei, wie Aufklärung gegen die Dunkelmänner unserer Zeit erfolgreich sein kann und Stand hält, wie europäische Vielfalt gegen die Verkünder völkischer Homogenisierung anschaulich gemacht werden kann – zur Klärung und Bewältigung dieser und vieler weiterer Aufgaben sollen die „Grundbegriffe“ nützlich sein.

Die Herausgeber schreiben in der Einleitung, dass es sich um eine Auswahl von Grundbegriffen handelt. Welche Begriffe wären aus Ihrer Sicht zusätzlich von Bedeutung?

Ausschluss und Aufnahme von Begriffen, Gebieten, Namen in ein Wörterbuch von begrenztem Umfang ist immer ein Geschäft, das nicht ohne Willkür und Zufall abzuschließen ist. Mit Bedacht ausgeschlossen wurden, durch die Beschränkung auf „Begriffe“, die Personennamen. Hierfür ist ein anderer Ort vorgesehen. Verschlungen von Terminzwang, Mangel an Vorarbeiten und VerfasserInnen wurde die „Kunst“ und die anschauliche, sinnliche Präsentation und Vermittlung von Humanismus durch möglichst viele Abbildungen. Umstritten war die Aufnahme eines Stichwortes „Mensch“. Dagegen war selbstbestimmte Begrenzung die Beschränkung des interkulturellen Humanismus auf einen Dachartikel und der Verzicht darauf, einzelne Artikel in den arabisch-persischen und asiatischen Kulturraum auszuweiten.

Im Buch ist die Rede von einem illusionslosen Humanismus. Von welchen humanistischen Illusionen gilt es sich denn zu verabschieden?

Zu den Illusionen und Irrtümern eines traditionellen, dekorativen, unkritischen Humanismus gehört die Vorstellung, Bildung ohne Barmherzigkeit und Wissen ohne Humanität könnten humanistisch sein, und die Annahme, Erziehung, Bildung, Aufklärung, die Kultur der Persönlichkeit allein könnten Fehlentwicklungen in Gesellschaft, Arbeit, Politik verhindern. Diese Illusionen aufzulösen, heißt aber nicht, einen Menschheitstraum zu zerstören, die Hoffnung aufzugeben auf Fortschritt und Glück, auf ein gutes, intensives, erfülltes Leben.

Das Buch ist ein profundes wissenschaftliches Werk. Zugleich wird Humanismus dort auch als Weltanschauung verstanden. Wie sehen Sie die Beziehungen der Elemente dieser Trias von Humanismus – Wissenschaft – Weltanschauung?

Humanismus lässt sich verstehen als eine empirisch vorfindliche Gegebenheit: was Menschen gesagt und gemacht haben, die „HumanistInnen“ heißen, oder: Humanismus ist eine kulturelle und politische Bewegung in Westeuropa in und seit der Antike. Verschiedene Wissenschaften erforschen diese Bewegung, ihre Errungenschaften und Niederlagen, z. B. Archäologie und Philologie, Medizin-, Rechts-, Bildungs- und Schulgeschichte, etwa zu den Formen humanistischer Vergemeinschaftung, zur Kunst der Renaissance oder der Wirkung der Antike in der europäischen Geistesgeschichte (Warburg-Institute). Eine weltanschauliche Dimension ergibt sich aus der persönlichen und praxisorientierten Annahme der Tradition eines kritischen und offenen Humanismus, durch seine Verbindung mit sozialen, politischen, philosophischen Programmen und Sozietäten, soweit vereinbar mit der humanistischen Option, also unter Ausschluss von nationalistischen, militaristischen, superstitiösen (abergläubischen) und antimodernen Fanatismen.

Welches sind nach Ihrer Ansicht die wesentlichen, zukünftigen Fragen respektive Forschungsaufgaben von Humanismus-Forschung und Humanistik?

Die dringendste und schwierigste Aufgabe der Humanismus-Forschung ist meines Erachtens der Aufbau einer Fakultät „Humanistik“ an einer Hochschule. Angesichts der üppigen Ausstattung, welche die Fakultäten der abrahamitischen Religionen in der Bundesrepublik Deutschland jetzt erhalten, ist der Anspruch einer „Humanistik“ gut zu argumentieren. Hierfür müssen Berufsbilder und Abschlüsse definiert, Stoffpläne, Prüfungspläne und Arbeitsformen entwickelt bzw. von im Ausland bestehenden Fakultäten für Humanistik übernommen und angepasst, sowie Kooperationen mit Hochschulen für Sozialarbeit versucht werden.

Demgegenüber ist die Fortschreibung der „Grundbegriffe“ durch eine breitere Aufnahme des interkulturellen Humanismus und die Berücksichtigung der Naturwissenschaften (Evolutionstheorie, Kognitionswissenschaften, Genetik) eine überschaubare Ausgabe. Das Bildchen auf dem Umschlag des Bandes „Humanismus: Grundbegriffe“ – die Plaketten der Raumsonden Pioneer 10 und 11 (1971 und 1972) – sollte als ein Impuls für diese beschränkte Aufgabe verstanden werden.

Die Fragen stellte Ralf Schöppner.

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