Ein umfassendes Spektrum humanistischen Denkens

wird durch die Texte zu den mehr als drei Dutzend Stichworten in „Humanismus: Grundbegriffe“ konstruiert und nachgezeichnet, sagt Mitherausgeber Frieder Otto Wolf.

Er bezeichnet das neue Kompendium als ein Musterbeispiel dafür, was eine selbstbewusste und wissenschaftlich freie humanistische Forschung zu leisten vermag. Als eines der nächsten Ziele des Projekts sieht er die Arbeit an einer ausführlicheren Enzyklopädie.

An wen richtet sich das Buch, für welchen Personenkreis wurden die Texte zusammengestellt?

Frieder Otto Wolf: Das Buch beruht auf zwei Annahmen: Es gibt, erstens, Menschen, die sich wirklich Gedanken machen über die kritische Lage, in die sich die Menschheit in diesem 21. Jahrhundert gebracht hat, und diese Menschen können, zweitens, dadurch unterstützt werden, dass ihnen der Stand der Debatten darüber, was die Menschen zu Menschen macht und wie die Menschen ihre Verhältnisse nachhaltig humanisieren können, in einer aufbereiteten Form umfassend zugänglich gemacht wird. Was dann indirekt die dritte Voraussetzung anspricht, die wir praktisch haben lösen müssen – nämlich Autor*innen zu finden, die das kompetent und zugänglich aufschreiben können.

Ich bin überzeugt, dass es uns gelungen ist, deutlich nachvollziehbar zu machen, dass ein gründliches und auch radikales, also an die Wurzeln gehendes Denken, das über das politische und kulturelle Tagesgeschäft hinausgeht, bereits in Ansätzen existiert und produktiv weiterzuentwickeln ist, um sich genau und unmissverständlich Tendenzen der Enthumanisierung entgegen zu stellen, wie sie in unserer Gegenwart zuzunehmen drohen.

Wie hat sich bestimmt, welcher Autor sich einem Begriff im Handbuch widmet?

Wie immer, wenn ernsthaft Autor*innen für einen bestimmten Zweck gesucht werden, von denen wirklich qualifizierte Artikel zu erwarten sind, haben wir unter Leuten gesucht, die wir – die Herausgeber – aus ihren Arbeitszusammenhängen heraus als grundsätzlich kompetent und einschlägig bewandert kennen. Dabei war es uns besonders wichtig, auch jüngere Autor*innen für unser Projekt zu gewinnen.

Und nach welchen Gesichtspunkten sind die Begriffe ausgewählt worden?

Wir haben nach einer Konstellation von Begriffen gesucht, an deren Entfaltung und Kritik zum einen ein wirklich umfassendes Spektrum humanistischen Denkens nachgezeichnet und konstruiert werden kann. Natürlich haben wir Begriffe ausgewählt, in denen sich zentrale Momente der humanistischen Tradition zusammenfassen lassen – wie „Säkularismus“ oder „Antike“ – aber wir haben auch nach Begriffen gesucht, mit denen sich der praktische Humanismus der Gegenwart besonders prägnant erfassen lässt – wie „Humanitarismus“ oder „Humanisierung“. Nach der „Nacht des 20. Jahrhunderts“ haben wir auch den Komplex des „Antihumanismus“ sorgfältig untersuchen und überwinden müssen. Aber wir haben auch ganz gezielt Begriffe aufgenommen, die in einem humanistischen Wörterbuch auf den ersten Blick unerwartet wirken, wie „Liebe“ oder „Zweifel“. Und damit das dann nicht allzu unsystematisch und kontingent ausfällt, haben wir einen „systematischen Teil“ vorgeschaltet, in dem dann schon einmal vorweg einige Grundbegriffe gleichsam gesetzt werden: „Humanismus“, „Humanität“, „Humanitarismus“, „Interkultureller Humanismus“ und „Humanistik“.

Was ist Zweck der Erläuterungen – geht es eher um eine humanistische Perspektive auf die Begriffe, eher um Darstellungen der „Humanismus“ konstituierenden Begriffe oder ist es eine Mischung aus beidem?

Das ist sicherlich von Begriff zu Begriff unterschiedlich  – insgesamt soll aber deutlich dargelegt werden, dass der moderne praktische Humanismus nicht nur zu vielen zentralen Fragen der Gegenwart etwas Relevantes zu sagen hat, sondern vor allem auch Ausgangspunkte, Modelle und Herangehensweisen anbietet, mit denen sich Menschen selber kompetent „Gedanken machen“ können.

Eingangs sprachen Sie bereits vom Anliegen, mit den Beiträgen des Bandes eine Unterstützung dabei zu bieten, die Herausforderungen der Gegenwart humanistisch zu reflektieren. Das Kompendium ist keine Art von Manifest und verzichtet qua natura auf Appelle oder konkrete Handlungsvorschläge. Wie sollte „Humanismus: Grundbegriffe“ gelesen werden?

Ich denke, es gibt zwei Strategien der Lektüre, die besonders produktiv sein können: Erstens eine, die vom systematischen Teil ausgeht und dann problembezogen unter Stichworten nachschlägt – aber auch eine, die einfach von gerade interessierenden Stichworten ausgeht und dort, wo sich das dann als nötig aufdrängt, den systematischen Teil konsultiert. Selbstverständlich ist es auch möglich, das ganze Buch einfach „durchzulesen“ – aber das dürfte doch eher der unwahrscheinlichste Fall sein, und vielleicht auch der Anteil mit der geringsten eigenen Aktivität in der Aneignung, auf die es aber doch entscheidend ankommt.

Der Band enthält zwar die Begriffe „Religionsfreiheit“ und „Religionskritik“, doch obwohl von „Religion“ an diversen Stellen die Rede ist, hat dieser Begriff keinen eigenen Eintrag erhalten, sondern es wird auf die Begriffe Humanisierung, Säkularisierung und Weltanschauung verwiesen. Warum?

Ich denke, dass die Phänomene, die unter dem Titel der Religiosität zusammengefasst werden, den Schein eines Zusammenhanges letztlich nur dem langen missionarischen Schatten der Kirchen „verdanken“, die alles als „religiös“ definiert haben, was ihrer Missionstätigkeit im Wege stand. Als ein kohärenter „anthropologischer“ oder auch „kulturgeschichtlicher“ Begriff ist der Religionsbegriff im 20. Jahrhundert gescheitert – auch wenn paradoxerweise einige nur naturwissenschaftlich gebildete „Religionskritiker*innen“ das noch gar nicht mitbekommen haben. Selbst die Unterstellung, dass Christentum, Islam und Judentum in einem klar identischen Sinne „Religionen“ seien, hält keiner auch nur halbwegs sorgfältigen Prüfung stand.

„Humanismus: Grundbegriffe“ hat eine klar säkulare Grundierung, sowohl hinsichtlich der Beiträge wie auch der Autoren. Liegen die Gründe dafür allein im Anspruch an die Wissenschaftlichkeit der Inhalte oder gibt es noch andere Aspekte, die für Sie hier eine Rolle gespielt haben?

Nein, ich meine, dass die Säkularität sich nicht einfach als ein Nebeneffekt der Wissenschaftlichkeit ergibt. Das ist eine eigenständige Bemühung, die ja bekanntlich viele Wissenschaftler*innen nicht auf sich nehmen – nämlich sich selber und die eigene Stellung und Perspektiven in der Welt ohne Rückgriff auf „höhere Mächte“ denken und gestalten zu wollen.

Von Ihnen verfasst wurde unter anderem der Eintrag zu „Humanistik“, einem für viele bisher eher exotischen Begriff, der eine freie wissenschaftliche Untersuchung und Reflexion von Humanismen und humanistischer Praxisfelder meint. In welcher Beziehung steht „Humanistik“ zu den Inhalten und dem Zweck des Bandes?

Ich denke, der Band ist insgesamt eine Einübung in Humanistik – und sogar ein Musterbeispiel dafür, was eine Humanistik, die sich wissenschaftlich frei auf den modernen praktischen Humanismus bezieht, heute schon zu leisten vermag. Und damit bringt er die Probleme und Thesen dieses Humanismus auf die Tagesordnung derjenigen Wissenschaftsbereiche, die sich mit den Problemen von Politik und Kultur oder von Lebensführung und Gesellschaft beschäftigen. Das ist ein großer Fortschritt gegenüber allen nur ins Abseits führenden Versuchen, stattdessen über den Urknall, die Relativität oder die Evolution diskutieren zu wollen. Das ist sicher auch nicht völlig uninteressant, ist aber für diejenigen Forscher*innen, die wirklich auf diesen Feldern arbeiten, mit vollem Recht genau so fremd, wie alle Versuche, ihnen einzureden, sie hätten es in Geschichte und Lebensweise letztlich doch eben nur mit „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ zu tun!

Es liegt auf der Hand, dass das Kompendium kein abgeschlossenes Werk ist. Möchten Sie den Rahmen skizzieren, in dem sich die zukünftige Entwicklung des Projekts „Humanismus: Grundbegriffe“ bewegen soll?

Wir müssen in zwei Richtungen arbeiten: Nämlich zum einen den hier erreichten Stand der Arbeit der Aufarbeitung und Selbstvergewisserung didaktisch zugänglicher zu machen, ihn also in einem guten Sinne zu „popularisieren“, und zum anderen aber auch weiter daran arbeiten, indem offene Fragen neu gestellt und beantwortet werden – durchaus auch mit dem „Zwischenziel“ einer ausführlicheren „Enzyklopädie des Humanismus“.

Die Fragen stellte Arik Platzek.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert