Nicht jedes Argumentieren ist per se humanistisch

sagt der Philosoph Ralf Schöppner und Verfasser des Eintrags „Argumentieren“ im Kompendium „Humanismus: Grundbegriffe“.

Der Direktor der Humanistischen Akademie Deutschland betont aber auch, die Geringschätzung öffentlicher Rede gegenüber Expertendiskursen beinhalte einen anti-demokratischen und anti-humanistischen Gestus.

Zu Beginn Ihres Artikels bezeichnen Sie das Argumentieren als „komplexe humanistische Kommunikationsform“. Warum ist Argumentieren spezifisch humanistisch?

Ralf Schöppner: Weil das Argumentieren historisch in humanistischen Zusammenhängen stets eine zentrale Rolle spielte, in der griechischen Aufklärung und der Römischen Republik, in Renaissance und europäischer Aufklärung, bei den Freidenkern und heute im modernen Pluralismus. Und weil es sich in systematischer Hinsicht deutlich unterscheidet von autoritären Sprechweisen wie offenbaren, verkünden, predigen, behaupten, vorschreiben; jedenfalls dann, wenn diese auf Begründung und Prüfung verzichten. Argumentieren bedeutet, ganz kurz gefasst: „Gründe angeben“. Wichtig zu sehen ist hier aber vor allem, dass nicht jedes Argumentieren per se humanistisch ist. Auch der Antihumanist kann natürlich argumentieren.

Wozu wird diese Kommunikationsform in der Gesellschaft gebraucht?

Mit dem Argumentieren können Menschen verschiedene Zwecke verfolgen: überreden, überzeugen, unterreden, sachliche Richtigkeit finden und prüfen. Andere sollen per Angabe von Gründen zu Zustimmung oder Engagement veranlasst werden. Selbstverständlich geschieht dies nicht in herrschaftsfreien Räumen. Beispielsweise können sowohl schlechte als auch gute Gründe überzeugend präsentiert und die wahren Gründen bzw. Ziele dabei bewusst verschwiegen werden. In einem guten Sinne brauchen wir das Argumentieren in demokratischen Gesellschaften, um in schwierigen, analytisch und wissenschaftlich nicht zu entscheidenden Fragestellungen zu gut begründeten und verantwortungsvollen Antworten zu kommen. Bei der Frage nach dem guten gesellschaftlichen Leben brauchen wir das Argumentieren.

In dem Eintrag schreiben Sie, die Geringschätzung öffentlicher Rede gegenüber Expertendiskursen stelle „eine elitäre Vereinseitigung des Argumentierens und einen anti-demokratischen, anti-humanistischen Gestus dar.“ Wie begründen Sie das?

Öffentliche Debatten erleben wir heute oftmals als „rhetorisch“, weil aalglatte Redner und Rednerinnen ihre eigens angelernten Überzeugungstechniken anwenden und in der Sache unterkomplex oder unaufrichtig agieren. Bücher wie „Überzeugen ohne Sachargumente“ sind Topseller. Das darf aber nicht dazu verleiten, die öffentliche Rede als solche zu brandmarken und sich den Experten und Autoritäten zu verschreiben. Ethik-Kommissionen mögen hilfreich sein, doch Politik muss von Bürgern und Bürgerinnen gemacht werden und bei sämtlichen Fragen der Lebensgestaltung ist jeder auch selbst ein Experte.

Sie legen unter anderem dar, wie die in der Antike entwickelte Funktion des Argumentierens in der römischen Kaiserzeit einen ersten Bedeutungsverlust erlitten habe, wo die rhetorische Technik gegenüber dem Sachgehalt in den Vordergrund gerückt sei. Weiter verschärft habe sich dieser Bedeutungsverlust als humanistisch geprägte Praxis öffentlicher Beredsamkeit im europäischen Mittelalter, wo die christliche Rhetorik das Argumentieren durch monologische Verkündigung, Belehrung und Bekehrung verdrängte. Wenn Sie den Status quo der – durch Technologie – bis heute rasant gewachsenen Kommunikationsräume in Druckerzeugnissen, TV, Internet etc., betrachten: Wie ist es in Ihren Augen heute um diese Praxis bestellt?

Man darf bei öffentlicher Beredsamkeit jetzt natürlich nicht an den Wahnsinn unserer überfluteten E-Mail-Posteingänge oder an die Lust der sprachlichen Verknappung in manchen sozialen Netzwerken denken. Was hingegen das digitale Pöbeln bis hin zu Shitstorms anbelangt, so ist hier der Gesamtzusammenhang der öffentlichen Beredsamkeit und des Argumentierens zerstört, weil ein Mangel an Kenntnissen in der Sache und ein Mangel an Persönlichkeit vorherrscht.

Dagegen sind viele der oftmals kulturpessimistisch belächelten Talkshows deutlich besser als ihr Ruf. Dort wird durchaus argumentiert, Argumente werden geprüft, Gründe miteinander verglichen. In Bezug auf die Debatten in Parlamenten, Ausschüssen usw. vermute ich, dass wir sie aufgrund von Intransparenzen qualitativ eher unterschätzen. Und von „Lügenpresse“ redet sowieso nur der, für den es nur eine Wahrheit gibt.

Was würden Sie eigentlich – neben der Fähigkeit zu sprechen – als grundlegende Voraussetzungen bezeichnen, um die „komplexe humanistische Kommunikationsform“ des Argumentierens praktizieren zu können?

Argumentieren kann jede und jeder. Es wird gefördert in einer Kultur, in der es offene Diskursräume gibt, private wie öffentliche. In der Türkei will die Politik ihm anscheinend gerade den Garaus machen. Wobei auch die Einförmigkeit der deutschen Reaktionen und Argumente auffällig ist: Als wären hier alle froh, dass andere schon vor uns ihren Genozid gemacht haben. Beim Einzelnen bedarf es als Voraussetzung sicherlich des guten Willens, sich auf den Sinn und die Geltung von Gründen einzulassen. Das ist natürlich überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Manchmal hat der andere Recht, aber man findet seine eigene Meinung trotzdem besser.

Warum ist denn der Begriff „Erzählung“ nicht in die erste Ausgabe aufgenommen worden?

Das wäre eher eine Frage an die Herausgeber, die es sich bei der schwierigen Auswahl der Begriffe nicht eben leicht gemacht haben. Selbstverständlich ist auch das Erzählen eine bedeutende humanistische Kommunikationsform. Das menschliche Leben und was daran bedeutsam ist, nämlich seine Freuden und seine Leiden, wird nicht nur mit kritischer Vernunft analysiert, sogar meistens nicht. Es wird vor allem auch erzählt: In alltäglichen Gesprächen und vor allem: im Roman. Gute Romane sind außergewöhnliche Verdichtungen menschlicher Erfahrungen. Sie sind nicht nur ein willkommenes Vergnügen, auch ihr allgemeines Humanisierungspotential scheint oftmals größer zu als das beste philosophische Argument.

Zuletzt: Ein Sprichwort lautet, dass manchmal die richtige Frage das bessere Argument ist.

Fragen ist nicht gleich Argumentieren. Doch kann der Frage implizit ein Argument zu Grunde liegen, das im Gespräch expliziert werden kann. Die große Bedeutung des Fragens liegt aber eher darin, dass sich mit seiner Hilfe zum einen das Argumentieren prüfen lässt und zum anderen Argumente überhaupt erst finden lassen. In diesem Sinne der Hinweis im Artikel auf die Zetetik, die fragende Suche nach guten Gründen. Auch das Fragen ist eine wichtige humanistische Kommunikationsform, es kann so schön produktive Verwirrung stiften, Gewissheiten unterminieren und neue Denkräume öffnen.

Die Fragen stellte Arik Platzek.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert